Als Deradikalisierung könnte die „einfache“ Umkehr des Prozesses gesehen werden, der zur Radikalisierung – also zur Entwicklung hin zum Extremismus und zur Gewalt – geführt hat. Dahinter steckt die Annahme, dass es darum geht, den Push- und den Pull-Faktoren, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben, sozusagen ihr „Gegenstück“ gegenüber zu setzen, um die Entwicklung rückgängig zu machen bzw. umzukehren.
In dieser Annahme stecken zwei Probleme:
Erstens ist es gar nicht so einfach, alle Push- und Pull-Faktoren ausfindig zu machen, um die es sich bei einer bestimmten Person handelt. Vielleicht ist sie sich selbst noch gar nicht klar darüber, um welche Faktoren es sich handelt und wie sie miteinander verknüpft sind. Und warum sie gerade bei dieser Person so und nicht anders gewirkt haben. Und dazu kommt, dass man nicht allen Push- und Pull-Faktoren etwas Wirksames entgegensetzen kann. So kann es sein, dass der Push-Faktor in einer historischen oder politischen Entwicklung besteht. Diese auszugleichen dürfte für alle Beteiligten ein übermäßiges Projekt sein.
Zweitens: Entwicklung ist nicht umkehrbar. Entwicklung bedeutet immer, etwas zu erleben, zu verarbeiten, die Spuren des Erlebten zu integrieren etc. Im Falle einer Hinwendung zur Gewalt bedeutet das den Aufbau von Aggression, das Zurechtlegen einer Rechtfertigung von Gewalt, die gedankliche Auseinandersetzung mit der Gewalttat, die Entmenschlichung des Opfers usw. Nach einer etwaigen Tat gilt es u.U., der inneren moralischen Instanz etwas entgegenzusetzen, also das schlechte Gewissen mit weiteren Rechtfertigungen zu beruhigen bzw. sich der Auseinandersetzung mit der Tat zu entziehen. Dies alles sind Schritte, die nicht umkehrbar sind. Hier müssen andere Be- und Verarbeitungswege gefunden werden.
Richtig ist allerdings, dass es wichtig ist zu verstehen, welche grundlegenden Bedürfnisse jemand mit seiner/ihrer gewaltsamen Handlung befriedigt hat. Denn für diese Bedürfnisse (z.B. Schutz des Selbstwertgefühls, Stabilisierung einer Identität …) gilt es, gesündere Ansätze der Selbstversorgung zu finden.
Die Schwierigkeit bei der Entwicklung dieser „Gegengifte“ besteht darin, genau zu wissen, welche Einflüsse auf welche Weise zur Radikalisierung geführt haben. Hierfür gibt es etliche Hypothesen, Modelle und Theorien, die sich zum Teil widersprechen. Die meisten Forscher gehen mittlerweile davon aus, dass es unmöglich – und auch unsinnig – ist, nach einem einzigen, universell gültigen Radikalisierungsmodell zu suchen. Radikalisierungsverläufe, so der Konsens unter Forschern, sind individuell unterschiedlich, auch wenn es Ähnlichkeiten und gemeinsame Elemente gibt, die in vielen dieser Verläufe zu erkennen sind. Generell lassen sich in den meisten Modellen und Theorien drei dieser Elemente ausmachen:
- Die Erfahrung von Unmut, Unzufriedenheit und Konflikt :
Hier kann es sich um einen persönlichen Identitätskonflikt handeln, Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen oder auch politische und soziale Spannungen, die – gemäß dem amerikanischen Sozialwissenschaftler Quintan Wiktorowicz – eine „kognitive Öffnung“ produzieren, also eine Bereitschaft, eigene Denkmuster zu überprüfen und mit neuen Ideen und Wertvorstellungen zu experimentieren.
- Die Annahme einer extremistischen Ideologie:
Die Funktion von Ideologien besteht vor allem darin, einen Schuldigen zu identifizieren („die Juden“, „die Ausländer“, „der Westen“, „das monopol-kapitalistische System“), eine Lösung bereitzustellen („der Gottesstaat“, „nationale Revolution“, „die Diktatur des Proletariats“) und zur Mitarbeit an diesem Projekt zu motivieren. Soziologen bezeichnend diese Funktionen als „diagnostisch“, „prognostisch“ und „motivierend“.
- Die Einbindung in Sozial- und Gruppenprozesse :
Viele Sozialwissenschaftler argumentieren, dass risikoreiche Formen des politischen Aktivismus – also zum Beispiel die Beteiligung an extremistischen und marginalisierten Gruppen, sowie illegale und gewalttätige Aktionen – besonders viel Einsatz und Mut erfordern. Typischerweise sind sie das Ergebnis von starken sozialen Bindungen, Gruppenloyalität und -druck.
Uneinigkeit besteht zwischen Forschern, wie wichtig diese „Bausteine“ sind und in welcher Kombination und Reihenfolge sie innerhalb von Radikalisierungsverläufen auftreten. Auch halten viele Wissenschaftler die oben genannten Elemente zwar für notwendig, aber nicht hinreichend und streiten deshalb über die Bedeutung zusätzlicher Faktoren und Bedingungen. Dass Unmut, Ideologie und Gruppenprozesse wichtig sind, steht allerdings außer Frage. Bei den allermeisten Ansätzen zur Deradikalisierung geht es dementsprechend darum, Konflikte zu mindern, die zur kognitiven Öffnung geführt haben, der extremistischen Ideologie entgegenzuwirken oder Personen aus ihren (extremistischen) sozialen Umfeldern herauszulösen.
Zusätzlich zur Umkehr des Radikalisierungsprozesses zielen viele Deradikalisierungsansätze darauf ab, Gefühle des Zweifels und der Enttäuschung bei Mitgliedern extremistischer Gruppen, die sich auf einen Deradikalisierungsprozess einlassen wollen, zu verstärken. Hierbei kann der Ansatzpunkt rein persönlicher Natur sein, also zum Beispiel Erschöpfungsgefühle nach jahrelanger Verfolgung und Tätigkeit im Untergrund oder der Wunsch nach einer grundsätzlichen Neuorientierung, Gründung einer Familie, einer stabilen Beziehung oder ähnliches.
Oft geht es auch um die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die sich vielen Mitgliedern extremistischer Organisationen offenbart, beispielsweise die Brutalität, die im Gegensatz zu den vermeintlich hehren Zielen der Gruppe steht, oder das persönliche Fehlverhalten von – und Konflikte mit – AnführerInnen und MitstreiterInnen.
Kognitive Deradikalisierung und Demobilisierung
Wie bei der Radikalisierung können auch Deradikalisierungsprozesse unterschiedliche Ziele haben, je nachdem, ob es darum geht, die Ideen und Einstellungen einer Person zu ändern oder deren Handeln. Wissenschaftler unterscheiden deshalb zwischen kognitiver Deradikalisierung und Demobilisierung (behavioural de-radicalisation):
Kognitive Deradikalisierung
Bei der kognitiven Deradikalisierung geht es darum, eine Person von ihren extremistischen Überzeugungen abzubringen. Hierdurch, so die Theorie, wird nicht nur die Ursache des kognitiven Extremismus behoben, sondern auch die Rechtfertigung für jegliche Form extremistischen Handelns. Bei der kognitiven Deradikalisierung geht es konsequenterweise nicht nur um die Herauslösung aus extremistischen sozialen Umfeldern und die Beilegung von Spannungen und Konflikten, sondern auch um ideologische Überzeugungsarbeit. Nach Ansicht vieler Wissenschaftler ist dies der anspruchsvollste Deradikalisierungsansatz, denn er rüttelt an Überzeugungen, die von ExtremistInnen als wahr akzeptiert wurden und in vielen Fällen zum Teil ihrer Identität geworden sind. Aus der Sozialpsychologie ist bekannt, dass Menschen Widersprüchen und Konflikten mit dem eigenen Selbstverständnis aus dem Weg gehen (kognitive Dissonanz) und sich gegen direkte, plumpe oder aggressive Überzeugungsversuche zur Wehr setzen (Reaktanz). Im schlimmsten Fall können Deradikalisierungs-Anstrengungen nach diesem Muster zu Bumerangeffekten führen, als deren Folge sich die ursprünglichen (extremistischen) Überzeugungen verfestigen.
Grundsätzlich stellt sich außerdem die Frage, welche Überzeugungen „nicht-extremistisch“ oder moderat sind, ab welchem Punkt also ein/e ExtremistIn als kognitiv deradikalisiert gelten soll. Wegen der Relativität des Extremismusbegriffs sind auch hier ganz unterschiedliche Deutungen möglich. Ist zum Beispiel ein vormaliger Neonazi dann deradikalisiert, wenn er die verfassungsmäßige Ordnung akzeptiert, aber dennoch weiterhin ausländerfeindliche Ansichten vertritt, die er oder sie innerhalb des Systems durchsetzen möchte? Welche Meinungen und Ideen sind innerhalb eines gewissen Kontexts akzeptabel, welche nicht? Und ganz praktisch: Wie lässt sich Deradikalisierung messen und über welchen Zeitraum müssen „moderate“ Einstellungen vertreten werden, um eine dauerhafte Deradikalisierung zu beweisen und das Risiko eines „Rückfalls“ auszuschließen?
Demobilisierung
Scheinbar einfacher ist die Demobilisierung. Hier geht es nicht um das Ändern politischer Überzeugungen oder das Abschwören von einer Ideologie, sondern um das Unterlassen extremistischer Handlungen, speziell der Gewalt und des bewaffneten Kampfs. Eine demobilisierte Person kann nach wie vor das politische System ablehnen, sich der verfassungsmäßigen Ordnung widersetzen und zum Beispiel rassistische oder antidemokratische Auffassungen vertreten, hat sich aber dazu entschieden, dies mit legalen Mitteln zu tun oder sich vollständig aus dem politischen Aktivismus zurückzuziehen. Anders ausgedrückt: Es ist möglich, demobilisiert zu sein, aber kognitive/r ExtremistIn zu bleiben.
Genauso unterschiedlich wie die Ansätze, die von staatlicher Seite verwendet werden, um Demobilisierungstendenzen zu verstärken, sind die Motive, die zur Demobilisierung Anlass geben. Neben den oben bereits erwähnten persönlichen Motiven – Erschöpfung, persönliche Neuorientierung – kann Demobilisierung beispielsweise strategischen Überlegungen entspringen. Gewalttätiges Handeln gilt dann nicht grundsätzlich als falsch, aber zur Erreichung der politischen Ziele unter den bestehenden Bedingungen als nicht sinnvoll oder kontraproduktiv. Ein weiterer Ansatz ist, den bewaffneten Kampf aus moralischen oder ideologischen Gründen in Frage zu stellen. Hier greift das Argument, dass die (extremistische) Sache zwar ehrenhaft sei, sie aber durch die Anwendung von Gewalt diskreditiert werde, also die angewandten Mittel nicht durch den Zweck zu rechtfertigen seien.
Demobilisierung kann sowohl individuell als auch im Kollektiv erfolgen. Bei individuell Demobilisierten handelt es sich häufig um „Aussteiger“ aus persönlichen Gründen, die mit dem extremistischen Milieu nicht vollständig brechen wollen oder können, Teil der „Szene“ bleiben, sich aber nicht mehr an illegalen oder gewalttätigen Aktionen beteiligen. Bei der kollektiven Demobilisierung geht es um ganze Gruppen – oder große Teile dieser Gruppen –, die einen Waffenstillstand verkünden und sich anschließend ganz von der Gewalt abwenden, ohne aber ihre grundsätzlichen Ziele aufzugeben. Ein Beispiel hierfür ist die Gama Islamiyya in Ägypten, deren Führung in den 1990er Jahren einen „Revisionsprozess“ initiierte und eine große Mehrheit ihrer Anhänger davon überzeugte, die Waffen niederzulegen. Wenn kollektive Demobilisierung mit Verhandlungen und staatlichen Konzessionen einhergeht – speziell politische Zugeständnisse und Teilhabe –, dann sind solche Prozesse konzeptionell nur noch schwer von Friedensprozessen zu unterscheiden.
Eine häufige Kritik an der Demobilisierung ist, dass die Abkehr von der Gewalt oberflächlich und oft rein taktischen Erwägungen geschuldet sei, die sich schnell umkehren ließen, sobald sich die politische Lage oder bestimmte ideologische Interpretationen änderten. Umstritten ist zudem die Rolle von kognitiven ExtremistInnen (siehe oben) in Demobilisierungsprozessen. Nach Ansicht einiger ForscherInnen und PraktikerInnen sind kognitive ExtremistInnen besonders gut dazu geeignet, die Demobilisierung gewaltbereiter ExtremistInnen zu begleiten, da sie ein ähnliches Weltbild hätten und deshalb mehr Einfluss und Glaubwürdigkeit besäßen als beispielsweise VertreterInnen des Staates oder Nicht-ExtremistInnen. Die GegnerInnen dieses Ansatzes streiten zwar meist nicht ab, dass kognitive ExtremistInnen bei der Demobilisierung eine positive Rolle spielen können, argumentieren aber, dass hierdurch ExtremistInnen „geadelt“ würden und lediglich ein Problem – gewalttätiger Extremismus – durch ein anderes – kognitiver Extremismus – ersetzt würde.