Für die Entwicklung zu gewaltorientierter bzw. antidemokratischer Radikalisierung gibt es viele unterschiedliche Erklärungsversuche mit vielen verschiedenen Einflussfaktoren. Die Grundlinien, die sich in den letzten Jahren herauskristallisiert haben, bewegen sich um die Themengebiete (subjektiv erlebte) Diskriminierung/Kränkung und Identitätskrisen.
Dabei können wir davon ausgehen, dass Menschen in Zeiten psychischer Instabilität besonders empfindlich sind hinsichtlich Kränkungs- und Diskriminierungserleben und dass sie daraus folgend eine erhöhte Empfänglichkeit ausbilden für Verheißungen radikaler Gruppen. Deren Versprechen lassen auf eine spürbare Stabilisierung hoffen und verheißen oft Verbesserung in den Aspekten, die zur Destabilisierung der Identität beigetragen haben und/oder die Ausgleich für die erlebte Kränkung erhoffen lassen.
Weitere Informationen finden Sie unter dem Petzold-Identitätsmodell
Dabei lassen sich Push- und Pull-Faktoren in den unterschiedlichsten Bereichen finden. Push-Faktoren stellen dabei die motivierenden Aspekte dar, die für den „inneren“ Antrieb sorgen, Pull-Faktoren sind diejenigen, die dazu passend einen äußeren Anreiz bieten. Diese Push- und Pull-Faktoren sind in unterschiedliche Kategorien unterteilbar. Sie finden sich in individuellen psychologischen Gebieten, in sozialen Zusammenhängen, in ideologischen, in politischen und historischen Perspektiven sowie in medialen und Gender-Einflussfaktoren.
Im Folgenden finden Sie eine Auflistung, in der verschiedene Push- und Pull-Faktoren gegenübergestellt sind:
« Push » – Faktoren
Individuelle/psychologische Begründungen
« Pull » – Faktoren
Verlockung durch radikale Ideen/ „Verheißung“
Diskriminierung (indiv., Beleidigung, Mobbing…)
Gleichstellung, Umkehr der Machtverhältnisse, Selbstwert-stabilisierung, Selbsterhöhung
Abwertung
Aufwertung, Wertschätzung
Ausschluss
Dazugehören, Wir-Gefühl, Integration
Verunsicherung/Angst
Sicherungsversuche durch Rigidität, Kontraphobisches Verhalten
Rollenverunsicherung
Klare Rollen- & Verhaltensregel
Unterlegenheit
Überlegenheit, Recht haben, maximaler Protest gg das Umfeld (auch wenn das heisst, die abgelehnten Regeln gelten noch stärker. Und für alle!)
Auswirkungen dysfunktionaler Erziehungsmethoden z.B. patriarchal-gewalttätige Erziehung)
Befreiung, gleichzeitige Abkehr &/durch Ausübung von rigider/ gewalttätiger Struktur („mehr desselben“, fighting for peace …)
Traumatisierung/Destabilisierung durch gewalttätige Konflikte und Krisen
Ablenkung, (Pseudo-)Stabilisierung, Ermächtigung (Verlassen d. Opferrolle)
Kränkung/Kränkbarkeit/Demütigung/Humiliation
Rache, Gerechtigkeit, Ausgleich, Wiederherstellen der Würde
Identitätskrise/-unsicherheit/-verlust
Stabilisierung/Formung einer Identität, Sicherung („Außenskelett)
« Push » – Faktoren
Soziale Begründungen
« Pull » – Faktoren
Verlockung durch radikale Ideen/ „Verheißung“
Diskriminierung (Rass-, Sex-, Anti … ismus)
Gleichstellung, Umkehr der Machtverhältnisse
Ablehnung/Ausschluss
Angenommen-Werden/Integration
Unverständnis
Verstanden-Werden
Perspektivlosigkeit/Ausbeutung
Perspektive/Gerechtigkeit, Ausgleich
« Push » – Faktoren
Ideologische Begründungen
« Pull » – Faktoren
Verlockung durch radikale Ideen/ „Verheißung“
Diskriminierung (Rass-, Sex-, Anti…ismus)
Gleich- oder Über-Stellung, Gegendiskriminierung, Erhöhung d. Gruppenwerts, Ermächtigung, Angstabwehr
Xenophobie
Angstbestätigung & -abwehr, Ermächtigung
Sündenbockdenken
Fremdschuldzuweisung, In-Group vs. Out-Group, Ermächtigung zur „Notwehr“, Rechtfertigung v. Gewalt
« Push »-Faktoren
Politische & historische Begründungen
« Pull » – Faktoren
Verlockung durch radikale Ideen/ „Verheißung“
Kolonialisierung
Befreiung, Rache, „Gerechtigkeit“
Gewaltmissionierung/Kreuzrittertum
Befreiung, Gewaltmissionierung, Umkehr, Rache
Geopolitische Veränderungen der letzten Jahrzehnte
Reaktionäre Utopie, Veränderungsbremse, Traditions-(=Stabilitäts- & Autonomie-)Orientierung
Misslungene Integration
Ausstieg aus Misslingens-Gesellschaft, Reintegration, Gemeinschaftsgefühl (Wir gegen den Rest der Welt)
Unterdrückung
Gleichstellung, Machtumkehr, „Wir gg d Rest der Welt“ – Gemeinschaftsgefühl (Jugendkultur)
Benachteiligung
Gleichstellung, Machtumkehr
Übersehen werden
Gesehen werden, Ruhm (als soz. Einheit), Auserkoren sein
Abgehängt fühlen, Ausschluss
Anschluss finden, „Gerechtigkeit“, Rache
Perspektivlosigkeit
Perspektive, Zukunft, Heilsversprechen
Machtlosigkeit
Machtgewinn, bes. durch Gewalt
Hingenommene oder intendierte Schädigung durch politische Entscheidungen
Reparation, Machtumkehr, Rache
« Push » -Faktoren
Mediale Aspekte
« Pull » – Faktoren
Verlockung durch radikale Ideen/ „Verheißung“
Vernetzung/Verbreitung
Digitale Nabelschnur zur Welt
Echorooms
Bestätigung => Aufwertung, Ideenisolierung & -Überhöhung, => Recht haben
Hate Speech
Abwertung anderer => Selbstaufwertung, emotionale Abfuhr
Unkontrolliertheit/Anonymität
Scheinbare Regelfreiheit, Anonymität => sanktionslos
« Push » – Faktoren
Männlichkeitsaspekte
« Pull » – Faktoren
Verlockung durch radikale Ideen/ „Verheißung“
Gebot der selektiven Gefühllosigkeit
Wut und Rache als positives Ventil, Wut = erlaubtes Gefühl
Ehrfrage/Gebot des Männlichkeitsnachweises
Notwendigkeit der Gewalt gg sich und andere
Dogma vom Leben als Kampf/Nullsummenspiel
Betonung des Recht-Habens, Abwehr von Kompromissen/Auseinandersetzungen
Opfer-/Ohnmachtsverbot
Wiederherstellung von Handlungsfähigkeit